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Legasthenie - Buchstabensuppe und Zahlensalat

  • Jeder siebente Mensch ist legasthen
  • Legasthene Kinder brauchen individuelle Förderung

Eine Mutter erzählt

"Unser Bub war ein aufgewecktes Kind, immer neugierig und überall dran. Beim Sprechen sprudelten ihm die Gedanken nur so heraus, dass er darüber stolperte. Deshalb war ich konsterniert, als er in die Schule kam und sich mit dem Lesen so schwer tat und auch beim Schreiben viele Fehler machte. Ich wurde nervös und übte besonders ehrgeizig immer mehr mit ihm, doch mit geringem Erfolg. "Ohne erkenntlichen Grund hat unser Sohn manchmal sehr gute, dann wieder schlechte Leistungen erbracht", erzählt eine Mutter.

Hilfe durch Spezialisten

Er habe Buchstaben auf den Kopf gestellt, Ziffern verwechselt, Zeichen vertauscht, statt einem Doppellaut ein stummes „h“ geschrieben und beim Lesen halbe Wörter verloren. „Unser Sohn wurde unruhig und bockig, ich selbst immer nervöser. Schließlich teilte uns die Lehrerin mit, dass er Mitschüler bestohlen hätte. Da läuteten bei mir die Alarmglocken. Wir suchten eine Spezialistin auf, die das Kind testete, und es stellte sich heraus, dass es legasthen ist.

Schließlich sehr gute Matura

Sie hat uns erklärt, dass Lernen mit allen Sinnen angesagt sei: Daheim haben wir Orientierungstrainings gemacht, mit Holzbuchstaben hantiert, Wortspiele geprobt, Fehlerwörterlisten erstellt und abgearbeitet. Die speziellen Computerspiele haben ihm sogar Spaß gemacht. Einmal im Monat hat unser Sohn mit der Legasthenietrainerin geübt. Zum Glück haben wir die Lehrerin als Mitstreiterin gewonnen. Allmählich ging alles besser, über die Jahre entwickelte mein Sohn auch wieder Selbstvertrauen. Er musste keine Klasse wiederholen, und am Ende, bei der Matura, fehlte nur noch ein Einser zum Vorzug.“

Legasthenie ist vererbbar

Schon vor 150 Jahren wurde beobachtet, dass es Kinder gab, die das Lesen und Rechtschreiben nicht erlernten. Es sollte noch hundert Jahre dauern bis zum Nachweis, dass diese Schwierigkeiten nichts mit Intelligenzmangel zu tun haben: Bei Legasthenikern arbeitet das Gehirn – das kann heute durch bildgebende Verfahren gut gezeigt werden – anders als bei anderen Menschen. Sie sind nicht gestört oder behindert. Legasthenie ist genetisch bedingt und wird vererbt: In manchen Familien tritt sie gehäuft auf. Betroffene haben Schwierigkeiten damit, Symbole – Laute, Buchstaben, Ziffern, Maße, Noten – zu erfassen und zu speichern.

Probleme bei Rechnen bzw. Schreiben

Manche plagen sich, Mengen abzuschätzen, Farben auseinander zu halten. Sie vertauschen links und rechts, oben und unten, können Distanzen und Maße schlecht abschätzen, vermögen kaum aus Gehörtem das Wesentliche herauszufiltern oder Gedanken zusammenzufassen. Das kann sich als Problem beim Lesen und Schreiben (Dyslexie), beim Rechnen (Dyskalkulie) oder in einer Kombination von beidem zeigen.

Verständnis und Rücksicht ist gefragt

Diese besondere Art der Sinneswahrnehmung haben 15 Prozent der Weltbevölkerung. In jeder Schulklasse sitzen also zwei bis drei Legastheniker. Vielfach werden diese Kinder auch heute noch als minderbegabt eingestuft. Bleibt ihnen die nötige Unterstützung versagt, können sich Schulangst und -verweigerung, Verhaltensstörungen und sogar psychosomatische Krankheiten entwickeln. Man schleppt sie zum Psychologen oder Psychiater, sie bekommen zwar nicht, was sie brauchen, aber Therapien über Therapien, und es beginnt ein Teufelskreis, aus dem es kaum ein Entrinnen gibt: Die Schulzeit wird zur Qual.

Lehrer sollten Verständnis zeigen

Neuerdings aber verbessert sich die Lage, immer mehr Pädagogen nehmen die Problematik wenigstens zur Kenntnis und helfen Betroffenen mit Verständnis und Rücksicht. Wohlwollende Lehrer kommen ihnen sogar bei der Leistungsbeurteilung entgegen. Leider wird in der Lehrerausbildung das Thema Legasthenie nur gestreift; es liegt also an der Lehrperson, sich selbst kundig zu machen.

Einige berühmte Legastheniker

Legasthene Kinder haben meist ein empfindsames, liebenswürdiges, anlehnungsbedürftiges Wesen, sie sind im Stande, mehrere Gedanken gleichzeitig zu verfolgen, haben eine erstaunliche Beobachtungs- und Auffassungsgabe und ein außerordentliches Feingefühl. Auch unter Berühmtheiten finden sich viele Legastheniker – von Albert Einstein über Walt Disney bis zu Whoopie Goldberg und Bill Gates. Legastheniker haben technischen Verstand und einen ausgezeichneten Zugang zum Computer. Es ist kein Zufall, dass die Mehrzahl der Programmierer im Silicon Valley legasthen ist.

Individuelle Unterstützung

Jedes Kind hat seine „eigene“ Legasthenie: Es gibt leichte, mittlere und schwere Formen. Ob und in welchem Maß ein Kind legasthen ist, kann von einem diplomierten Legasthenietrainer genau erhoben werden. Dazu dient der AFS-Test, der auf neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht und nur eine Stunde dauert. Häufig wird Legasthenie mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) verwechselt. LRS wird durch verschiedene Ereignisse im Leben eines Kindes wie Krankheit, familiäre Probleme, psychische Ursachen, schlechte Unterrichtsmethoden, Lerndefizite oder Minderbegabung und anderes mehr hervorgerufen. Sie kann durch vermehrtes Üben von Lesen, Schreiben und Rechnen gut behoben werden.

Sinneswahrnehmungen trainieren

Ein solches Training reicht bei legasthenen Kindern nicht aus. Es muss natürlich auch, jedoch mit Maßen betrieben werden. Viel wichtiger aber ist, diesen Kindern zu helfen, die Gedanken bei der Sache zu halten. Sie werden häufig als unkonzentriert eingestuft. Beim Spielen, Basteln, Musizieren etc. kann man aber sehr gut beobachten, wie intensiv sie sich beschäftigen können. Dagegen schweift die Aufmerksamkeit bei der Arbeit mit Buchstaben und Zahlen rasch ab, Fehler sind unausweichlich. Doch das Kind nimmt diese nicht wahr, auch wenn es weiß, wie man ein Wort schreibt. Deshalb muss man zusätzlich die Sinneswahrnehmungen trainieren – erst die optischen, dann die akustischen.

"Hilfe durch Spezialisten nötig"

Dr. Astrid Kopp-Duller, die seit mehr als 25 Jahren mit legasthenen Kindern arbeitet, hält fest: „Innerhalb der Klasse kann der beste Pädagoge dem Kind nicht helfen, es ist individuelle Hilfestellung durch einen Spezialisten nötig. Für die Eltern bedeutet dies einen wesentlichen Mehraufwand. Sie sollten erkennen, dass sie die Verantwortung nicht einfach an die Schule delegieren können. Eine gute Zusammenarbeit mit Lehrern und Pädagogen ist wichtig, damit die Kinder den Schulalltag bestehen.“

Foto: Contrast

Auch Albert Einstein war Legastheniker. Betroffene haben technisches Verständnis, und der Umgang mit Computern fällt ihnen leicht.

Erste Anzeichen

Kleinkindphase:  Die Krabbelphase ist für die Entwicklung der Schreib- und Lesekoordination wichtig. Legasthene Kinder krabbeln eher wenig, kriechen nach hinten oder zur Seite.

Vorschulzeit:  Manchen dieser Kinder fehlt das Rhythmusgefühl, andere stolpern und fallen häufig. Hört und sieht das Kind gut? Von Fachärzten kontrollieren lassen.

Im ersten Schuljahr:  Unaufmerksamkeit beim Lesen und Schreiben, unerklärliche Häufung von Fehlern. Schalten Sie spätestens in der zweiten Hälfte des Schuljahres einen Spezialisten ein. Durch Warten vergeht oft wertvolle Zeit.

Wie Eltern helfen können

  • Zuhören: Hören Sie Ihrem Kind zu und nehmen Sie es ernst. Machen Sie ihm klar, dass Unwissenheit der Grund ist, wenn andere meinen, es sei blöd oder faul. So kann es ungerechte Demütigungen besser wegstecken.
  • Bewegung: Viel gemeinsam unternehmen, viel Bewegung machen.
  • Nach vorne: In der Klasse sollte das Kind in der ersten Reihe sitzen, mit geradem Blick zur Tafel; das erleichtert, Geschriebenes und Gehörtes zu erkennen.
  • Große Texte: Als Übung Plakate, Aufschriften, Tafeln etc. lesen. Lesetexte in großer Schrift auswählen.
  • Be-greifen: Weil das Kind am besten durch Angreifen lernt: Buchstaben aus Salzteig formen, auf dem Boden nachgehen, aus Papier ausschneiden; Wortbilder am Bildschirm auch dreidimensional zeigen. Knöpfe, Birnen, Kekse etc. in Reihen und Gruppen legen und damit rechnen.
  • Üben: Jeden Tag üben, höchstens aber eine Viertelstunde. Nicht unter-, nicht überfordern.
  • Erst leise lesen: Immer zuerst leise lesen, dann erst laut vorlesen und schreiben lassen. „Schau Dir das Wort gut an!“ Beim Erarbeiten von Doppellauten oder Umlauten helfen.
  • Einmaleins: Das Einmaleins wieder und wieder üben.
  • Bleistift: Übungen prinzipiell mit Bleistift ausführen lassen. Fehler ausradieren, aber NIE rot anstreichen (so wird der Fehler hervorgehoben, und das Kind merkt sich das falsch geschriebene Wort).
  • Spezialbetreuung: Wenn in der zweiten Klasse das Lesen nicht erlernt wird, ist Betreuung durch eine Fachkraft nötig.
  • Nie am Kind zweifeln! Loben Sie es für jeden Fortschritt und freuen Sie sich mit ihm!

Mehr zum Thema

  • Informationen, kostenloses Trainingsmaterial und Adressen speziell ausgebildeter Pädagogen:
    Erster österreichischer Dachverband Legasthenie (EÖDL), www.legasthenie.at , Tel. (0463) 556 60
    Österreichischer Bundesverband Legasthenie (ÖBVL) www.legasthenie.org , Tel. (01) 911 32 77-0
  • Zum Weiterlesen: Astrid Kopp-Duller. Legasthenie und LRS.
    Der praktische Ratgeber für Eltern. Freiburg, Herder 2003

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