Zum Inhalt

Behinderungen - Barrieren überall

Das EU-weit gültige Gleichbehandlungsgesetz verspricht allen Menschen überall freien Zugang. Wie sieht die Wirklichkeit aus?

Wien, eine Stadt ohne Hindernisse? Die Gehsteigkanten sind abgesenkt, viele Ampeln mit Signalen für Blinde ausgerüstet, die U-Bahn ist mit Liften und Leitwegen versehen. Es kommt auf eine Probe an. Warum nicht einmal mit dem Rollstuhl durch die Straßen fahren? Der Rollstuhl ist bequem und es fällt mir leicht, ihn mit meinen Händen anzutreiben und zu steuern. Anfangs irritiert die neue Perspektive, die ich im Sitzen einnehme. Erst allmählich kann ich mich daran gewöhnen.

Geldangelegenheiten: Vom Stubenring zum Georg-Coch-Platz

Ich starte am Stubenring. Mein Ziel: die Post am Georg-Coch-Platz. Dort will ich Geld einzahlen. Zuerst einmal übe ich Kurven zu fahren – das trifft sich gut, denn mitten am Gehsteig beim Café Ministerium steht ein Plakatständer, dem ich ausweichen muss. Gut, dass ich nicht mit dem Blindenstock unterwegs bin – da wäre ich sicherlich dagegen gestoßen. Nun lenke ich mein Fahrzeug zum Zebrastreifen. Zuerst heißt es, dort die vier Mistkübel umfahren, die aufs Ausleeren warten. Und dann muss ich noch die Stange mit dem Verkehrsschild umrunden, die ausgerechnet vor dem Zebrastreifen steht. Auch auf der anderen Straßenseite befindet sich so eine Stange, und daneben ein Poller, der Falschparker abwehren soll – da muss ich unwillkürlich wieder an den Blinden denken, der nicht darauf vorbereitet ist, dass mitten auf dem Weg solche Hindernisse lauern. Ich aber lenke drum herum und fahre zum Haupteingang der Post.

Rollstuhlfahrer auf den Nebeneingang

Elegante Treppen führen dort hinauf. Ein Schild verweist Rollstuhlfahrer auf den Nebeneingang in der Seitengasse. Was aber ist mit Gehbehinderten? Sie können zwischen den steilen Stufen und dem weiten Weg um das Gebäude herum wählen. Ich fahre also wieder zurück und um die Ecke. Beim Eingang rufe ich den Portier, und er verlässt seine Loge, um mich hinauf in den ersten Stock zu begleiten, wo sich die Schalterhalle befindet. Den behindertengerechten Lift mit abgesenkten Druckknöpfen und Handleiste könnte ich leicht selbst bedienen, für Blinde sagt eine Stimme sogar die Stockwerke an. Doch der Portier muss mit, um die versperrte Tür am Gang zu öffnen.

Geld beheben: unmöglich

Dann endlich werde ich beim Automaten Geld abheben. Aber leider! Der Bankomat ist so hoch an der Wand montiert, dass ich die Karte nicht einschieben und den Code nicht eintippen kann. Geld aufzugeben ist jedoch möglich – in der Schalterhalle gibt es Schreibtische in meiner Höhe, und die Kassenschalter sind unterfahrbar. Der Rückweg gestaltet sich ebenso umständlich. Ein Kassenbeamter muss telefonisch den Portier am Haupteingang rufen, der achtzehn Stufen tiefer residiert. Der Portier öffnet mir eine Türe und bringt mich zurück zum Lift. Dieser aber streikt gerade, sodass ich für kurze Zeit zwischen Tür und Lift eingesperrt bin und bei einer Kundin weitere Hilfe erbitten muss, um aus dem Gebäude zu kommen.

Alltägliche Wege: Auf Hilfe angewiesen

Dann will ich etwas Obst einkaufen – doch ins nächste Geschäft führen zwei unüberwindbare Stufen. Ich warte, bis jemand herauskommt, damit ich durch die offene Türe eine Verkäuferin herbeirufen kann – aber niemand hört mich, und ich gebe auf. Wohin nun? Ich überlege, zum Arzt zu gehen. Gleich nebenan, im zweiten Stock, hätte ich die Gelegenheit dazu. Vorausgesetzt, jemand läutet für mich an und trägt mich über die Stufen zum Lift. In Österreich ist – im Unterschied zu anderen Ländern – ein behindertengerechter Zugang zur Praxis nicht Bedingung für den Krankenkassenvertrag. Nur für die neuen Gemeinschaftspraxen soll diese Vorschrift gelten. Bräuchte ich Medikamente, könnte ich sie einige Häuser weiter bei der Apotheke am Julius-Raab-Platz besorgen. Theoretisch: Eine hohe Stufe versperrt den Zugang zur Tür. Die Klingel kann ich zwar erreichen, aber es nützt nichts, denn da steht: „Glocke nur bei Nachtdienst aktiviert“. Es ist eigenartig, so knapp vor einem Ziel zu stehen, das trotzdem unerreichbar bleibt. Ein beklemmendes Gefühl von Hilflosigkeit steigt in mir hoch.

Im Eiltempo über die Straße

Ich habe vor, auf dieser Seite der Ringstraße weiterzufahren. Leider ist der Gehweg durch Mistkübel, Schanigarten und Postkasten verstellt – wenig Raum für den Rollstuhl oder einen Kinderwagen, viele Hürden für Seh- und Gehbehinderte. Auf der anderen Straßenseite, beim Regierungsgebäude, ist genug Platz. Ich will hinüber, da spricht mich eine ältere Dame an: „Es geht sich nie aus, da kommt schon die Meute!“, sagt sie und deutet auf die Fahrzeuge, die in Viererreihe heranbrausen. Es dauert mehr als eine Minute bis die Ampel für Fußgänger wieder auf Grün schaltet. Rollend haste ich so gut es geht über die Straße, hinkend begleitet mich die Dame, doch schon auf halbem Weg springt das Lichtsignal auf Rot. Verwundert warte ich die nächste Ampelphase ab: Tatsächlich, man hat für die Überquerung gerade sieben Sekunden! Zum Glück gibt es an dieser Ampel kein Freisignal für Blinde. Der Versuch, an dieser Stelle die Straße zu überqueren, wäre für sie lebensgefährlich.

Ein Amtsweg: Insiderwissen benötigt

Nächste Etappe: das Ministerium für Wirtschaft und Arbeit. Einladend großzügig ist der Eingang, die Glastüre geht automatisch auf. Dann stehe ich vor dem Treppenaufgang. Kein Lift weit und breit. Erst nach langem Suchen sehe ich draußen im Hof, wo die Autos parken, ein Rollstuhlsymbol. Aber die Tür zum Hof stoppt mich: Es ist unmöglich, sie mit einer Hand aufzuhalten und mit der anderen das Rad zu drehen – sofort steht der Rollstuhl schief. Die automatische Schließvorrichtung drückt zu stark gegen mich, und ich bin auf fremde Hilfe angewiesen.

Treppenheber nur für Behinderte

Dasselbe beim Treppenheber: Er ist versperrt. Wer einen Behindertenausweis hat, weiß, dass man beim ÖAR (Adresse siehe "Hindernisse abbauen") einen „Euroschlüssel“ bekommen kann, mit dem sich alle Treppenlifte aufsperren lassen. Für Menschen, die nur schlecht gehen können oder bewegungseingeschränkt sind, ist das nicht vorgesehen. Zu meiner Rettung kommen zwei Küchengehilfen vorbei und heben mich über die Treppe – ihnen sei Dank. Denn ich muss mittlerweile dringend auf die Toilette. Mit meinem Gefährt komme ich beinahe nicht in das Behindertenklo hinein: Der Raum dient als Rumpelkammer und ist mit Tafeln verstellt. Ich bin heilfroh, dass ich selbstständig aufstehen kann, um das Klo zu benützen. Hier fehlt ein Bügel als Umsteighilfe.

Keine Hinweisschilder

Den Verbindungsgang entlang rolle ich hinüber ins Sozialministerium, wo ich den nächsten Lift hinunter zum Ausgang nehmen will. Rechtzeitig rät mir ein Haustechniker, den anderen Fahrstuhl zu wählen, der mit allem ausgerüstet ist, was Menschen mit Mobilitätseinschränkung brauchen, mit diesem hier käme ich nur zur Eingangstreppe. Weil ein Wegweiser fehlt, begleitet er mich. Zum Glück, denn irgendwer lädt gerade Material aus oder ein, und der Lift ist blockiert. Der Helfer interveniert, und sieben Minuten später geht’s endlich hinab und hinaus. Nur die Rampe zur Ausfahrt macht mir noch Probleme – sie hat mehr Steigung als die empfohlenen sechs Prozent.

1 Stunde: Das wäre nicht nötig!

Eine Stunde hat mein Testlauf gedauert, und alle Menschen sind mir freundlich begegnet. Trotzdem war es unangenehm, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Das wäre nicht nötig. Beispiel U3 Station Stubenring: Ich schließe die Augen als wäre ich blind und kann mithilfe des Leitsystems die drei Lifte leicht finden. Ich höre auch die Klingel, die anzeigt, dass sich eine der Türen öffnet. Aber welche? Doch bis man das herausgefunden hat, ist der Lift längst wieder weg…

P.S.: Das Sozialministerium hat inzwischen den Auftrag erteilt, alle Bundessozialämter und das Regierungsgebäude vermessen zu lassen.

Das ist das Motto von You too: www.you-too.net ist ein Internet-Informationsdienst, bei dem alle, die Amtswege, Kulturgenuss oder Reisen planen, von zu Hause aus erkunden können, welche öffentlichen Gebäude, Hotels, Restaurants, Museen, Kinos und Theater ohne Barrieren zugänglich sind. Die Datenbank wird europaweit in sieben Sprachen und nach einheitlichen Standards aufgebaut.

Wenn Sie an Barrieren stoßen, können Sie dies beim Sozialministerium oder an folgender Adresse melden:
ÖAR, Österreichische
Arbeitsgemeinschaft für
Rehabilitation, Stubenring 2/1/4, 1010 Wien
Tel. (01) 513 15 33
Fax: DW 150; E-Mail:
dachverband@oear.or.at

Unternehmer, Institutionen und Gebäudeverwaltungen können ihre Einrichtung vermessen lassen, um festzustellen, ob sie für alle Menschen freien Zugang und ungehinderte Mobilität bieten. Sie erhalten dann eine Beschreibung, die eine kostengünstige Adaptierung ermöglicht. Adresse:
equality Austria
Grenzackerstraße 7–11/19
1100 Wien
Tel. (01) 617 57 87
Fax (01) 617 11 59-4
Diese Einrichtung wurde vor drei Monaten mit dem österreichischen Staatspreis für Tourismus ohne Barrieren ausgezeichnet.

Die Önormen B 1600 „Barrierefreies Bauen“ und B 1601 „Spezielle Baulichkeiten für behinderte und alte Menschen“ liefern Bauherren und Architekten Planungsgrundsätze für die barrierefreie Gestaltung von Gebäuden. Informationen: Österreichisches Normungsinstitut (ON), Heinestraße 38
1021 Wien
Tel. (01) 213 00-805
Fax: (01) 213 00-818
Internet: www.on-norm.at

Diesen Beitrag teilen

Facebook Twitter Drucken E-Mail

Gefördert aus Mitteln des Sozialministeriums 

Sozialministerium

Zum Seitenanfang