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Tinnitus: Klingen im Ohr - Zu viel um die Ohren

, aktualisiert am

  • Gute Heilungschancen in der Akutphase
  • Mit chronischem Ohrgeräusch leben lernen

Ein penetranter Störenfried

Sie sitzen mit Freunden in einem Restaurant. Das Essen war herrlich und die Unterhaltung ist in vollem Gang. Eigentlich müssten Sie die Situation genießen, doch Sie können das nicht, weil ein Essensrest zwischen den Zähnen Ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Erst als Sie sich mit einem Zahnstocher des penetranten Störenfrieds entledigt haben, fühlen Sie sich im wahrsten Sinne wieder frei.

Klingeln, Pfeifen, Brummen

Wer diese Situation kennt – und viele kennen sie –, kann gut nachvollziehen, wie es Menschen ergeht, die unter Tinnitus (tinnire = lat.: klingeln) leiden, also ein ständiges Klingeln, Brummen, Pfeifen oder Brummen im Ohr haben, für das es kein äußeres Schallsignal gibt und das gewissermaßen selbst produziert wird. „Ich wage nicht, eine Stunde ununterbrochen zu lesen, auch nicht, etwas klar zu durchdenken oder zu betrachten; sogleich ist nämlich das Klingen, und ich sinke der Länge nach hin“, so klagte schon Martin Luther (1483–1546) über sein Leiden.

In den letzten Jahren häufiger

Tinnitus ist kein neues Phänomen, doch in den letzten Jahren ist eine geradezu sprunghafte Zunahme zu verzeichnen. Eine Folge des stetig steigenden Lärmpegels und der erhöhten Stressbelastung – die Menschen haben buchstäblich zu viel um die Ohren. So jedenfalls eine Erklärung. Wie und warum Tinnitus entsteht, ist noch nicht endgültig geklärt. Es steht aber außer Frage, dass er viele Ursachen haben kann. Vom seelischen Konflikt über das Lärmtrauma bis zu einer Anomalie des Kiefergelenks.

Chronisch dekompensierter Tinnitus

Bis jetzt war immer vom chronischen dekompensierten Tinnitus die Rede, so der Fachausdruck. Chronisch bedeutet, dass er schon mindestens ein halbes Jahr andauert, und dekompensiert, dass für den Betroffenen das ständige Geräusch im Ohr (manchmal in beiden, manchmal auch im Kopf) eine Last, wenn nicht sogar eine Qual ist, die Depressionen, Schlaf- und Konzentrationsprobleme, ja unter Umständen Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben kann.

Keine Zeit verlieren

Diese Form ist vom akuten Tinnitus zu unterscheiden, der sich quasi noch nicht verfestigt hat und bei dem die Heilungschancen sehr gut sind. Deshalb sollte das plötzliche Auftreten von Ohrgeräuschen stets als eine Art Notfall betrachtet werden. Keine Zeit versäumen und sich so schnell wie möglich in ärztliche Behandlung begeben! Akuter Tinnitus ist für viele Kliniken ein Grund zur stationären Aufnahme. Der Patient erhält in der Regel durchblutungsfördernde Infusionen, und bei jedem zweiten verschwindet das Ohrgeräusch tatsächlich wieder.

Zur Ruhe finden

Eine beachtliche Erfolgsrate; viele Experten führen sie allerdings weniger auf die Infusions-Behandlung zurück als vielmehr auf den Umstand, dass der Patient temporär aus seinem gewohnten familiären und beruflichen Umfeld herausgenommen wird und so wieder zur Ruhe finden kann. Denn nach Erkenntnissen der Österreichischen Tinnitus-Liga ist der Tinnitus-Patient auffallend oft „arbeitsam, zuverlässig, strebsam, ehrgeizig, erfolgreich und unermüdlich im Einsatz“ – charakteristisch für ihn ist mithin, dass er sich kaum einmal eine Pause gönnt.

Es gibt keine Wunderpille

„Da kann man nichts machen, damit müssen Sie leben“, sagen immer noch viele Hals-Nasen-Ohren-Ärzte (HNO-Ärzte) ihren Patienten, wenn die Akut-Behandlung zu keiner Besserung führt. Es stimmt: Die Wunderpille, die das Ohrensausen umgehend zum Verschwinden bringt, ist noch nicht erfunden.

Mit Tinnitus leben lernen

Doch das heißt nicht, dass nichts mehr getan werden könnte. Nur das Ziel muss neu definiert werden: Es darf nicht länger lauten, gegen den Tinnitus anzukämpfen, denn in diesem Duell wird der Betroffene garantiert der Unterlegene bleiben. Vielmehr muss es lauten, mit ihm leben zu lernen. Ihn in den Alltag zu integrieren. Ihn zu akzeptieren. Kurzum: den dekompensierten Tinnitus in einen kompensierten umzuwandeln. „Coping“ nennt die Medizin diese Strategie.

Den Feind zum Freund machen

Für den Betroffenen ist wichtig, dass das Ohrgeräusch seinen marternden Charakter verliert und nicht mehr alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Im Grunde ist es ja auch gar nicht das Geräusch, das stört, es ist vielmehr die eigene Wertung als „Bedrohung“ und „Qual“, mit der der Leidende sich das Leben schwer macht. Denn: Das Rauschen im Ohr kann sich genauso anhören wie das von einem Wasserfall, mit dem entscheidenden Unterschied, dass es im einen Fall als störend wahrgenommen wird, im anderen dagegen vielleicht gar als beruhigend. Der an Tinnitus Leidende muss lernen, eine größere Gelassenheit gegenüber seinem Ohrgeräusch zu entwickeln. Das Motto ist: Weg von der unheilvollen Fixierung und hin zu neuer Flexibilität.

17 Selbsthilfegruppen in Österreich

Das ist freilich leichter gesagt als getan. Vom Betroffenen wird viel Eigeninitiative verlangt, mehr als bei so mancher anderen Krankheit. Der Arzt hat kein einfaches Mittel in der Hand, mit dem er ihn von seinem Leiden befreien könnte, deshalb liegt die Verantwortung beim Patienten selbst. Eine wertvolle Hilfe bieten die Tinnitus-Selbsthilfegruppen, von denen es 17 in ganz Österreich gibt. Der Arzt füllt eher die Rolle des Beraters und Begleiters aus. Er kann mit dem Patienten mögliche Ursachen ergründen und einen individuellen Behandlungsplan erstellen.

Entspannungsübungen, Psychotherapie

Dem einen mag es helfen, mit Entspannungsübungen zu mehr Ruhe zu finden. Dem anderen, mit psychotherapeutischer Hilfe seelische Konflikte aufzuarbeiten und die Folgeerkrankungen besser in den Griff zu bekommen.

Und dem dritten, mit „Noisern“ zu arbeiten, das heißt mit Geräten zur Erzeugung von leisen Geräuschen, die den Tinnitus weitgehend übertönen und dem Gehirn eine Gewöhnung an ihn ermöglichen.

Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT)

Es ist freilich auch möglich, alle drei Ansätze zu kombinieren. In diese Richtung zielt etwa die so genannte Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT), deren Finanzierung erst im September letzten Jahres vom Hauptverband der Sozialversicherungsträger allen Krankenkassen empfohlen wurde. Dieses relativ neue Verfahren hat eine Erfolgsquote von 70 Prozent, so einer ihrer Proponenten, der HNO-Arzt Dr. Claus Despineux. Erfolg heißt in diesem Fall nicht unbedingt, dass das Ohrgeräusch völlig verschwindet, doch dass der Betroffene mit ihm zu leben lernt. Die Therapie dauert immerhin bis zu 18 Monate. Eine schnelle Heilung gibt es nicht.

"Mein Leben mit Tinnitus"

Ewald Böhm, Vizepräsident der Österreichischen Tinnitus-Liga (ÖTL), Leiter der Tinnitus-Selbsthilfegruppe Wien:

"Ich habe Tinnitus 1984 bekommen, in meinem Fall ist die Ursache eindeutig. Knalltrauma. Passiert ist es bei einer Schießübung der Polizei: Plötzlich stellte sich bei mir ein Rauschen in beiden Ohren ein. Ich nahm das zunächst nicht weiter ernst, erst nach zehn Tagen ging ich zum HNO-Arzt. Zu spät, muss ich heute sagen. In der Klinik bekam ich durchblutungsfördernde Mittel. Doch das Rauschen im Ohr blieb und wollte nicht mehr weggehen. Unter Stress war das Ohrenrauschen immer besonders stark, was wiederum den Stress verstärkte. Es war ein Teufelskreis. Zum Glück hatte ich aber wenigstens keine  Einschlafstörungen.

Ich versuchte, weiter meinen Lieblingsbeschäftigungen nachzugehen – Sport treiben und in der Natur sein –, denn gerade dadurch war ich abgelenkt, so sehr, dass ich den Tinnitus kaum noch wahrnahm.

Ich hatte noch dreimal einen Klinikaufenthalt für jeweils mehrere Tage, auch mit hyperbarer Sauerstofftherapie (Druckkammer). Allerdings ohne jede Besserung. Es liegt mir fern, ein Allheilmittel zu propagieren. Jeder Tinnitus ist individuell und muss individuell angegangen werden."

Mehr zum Thema

Österreichische Tinnitus-Liga (ÖTL)
8029 Graz, PF 23

Tel. (0316) 28 91 30
oder 0676 381 22 28

E-Mail: koller-oetl@sime.com
www.tinnitus.at

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