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Alzheimer - Weg ins Vergessen

Ein Mensch mit Alzheimer verändert sich. Erst leidet er selber, später leiden vor allem die pflegenden Angehörigen.

Steil nach oben

Er war Physiker, ein sehr erfolgreicher, ­dessen Karriere nur eine Richtung kannte: steil nach oben. In seiner Umgebung genoss er großes Ansehen. Guter Job, großes Haus, schnelles Auto. Was daneben allerdings ­etwas zu kurz kam, war das Familienleben. Seine Frau bekam ihn kaum zu Gesicht. ­Immer hatte er irgendwelche dringenden ­Sachen zu erledigen. Und immer kam er erst spät nach Hause.

Dann die Pension. Plötzlich hatte er nichts mehr zu tun. Für ihn keineswegs die lang ­ersehnte Zeit der Ruhe und Muße, sondern eher ein "Schock“. Ein Schock, der vielleicht auch dazu beigetragen hat, dass sein Alz­heimer voranschritt und rascher bemerkt wurde.

Schwierigkeiten im Alltag

Eben noch der angesehene Erfolgsmensch, tat er sich nun zunehmend schwer, sich im Alltag zurechtzufinden. Eine gewisse Härte hatte er sich im Laufe seines Berufslebens zugelegt, anders hätte er es auch gar nicht bis nach oben geschafft. Mit der Erkrankung an Alzheimer fiel diese Härte wie eine äußere Haut von ihm ab. Er entwickelte sich wieder zu dem Menschen, der er früher gewesen war: gefühlvoll und liebenswürdig.

Endlich wieder Mensch

Seine Frau atmete auf. Endlich war ihr Mann wieder Mensch und kein Getriebener mehr. Die Alzheimererkrankung als eine Art Glücksfall. Sie half, dass das Ehepaar, das sich bereits auseinander gelebt hatte, wieder zusammenfand.

Alzheimer hat viele Gesichter

Prof. Dr. Dal-Bianco, Leiter der Spezialambulanz für Gedächtnisstörungen und Demenz­erkrankungen am AKH Wien und Co-Autor unseres Buches "Alzheimer“, erzählt diese (Kranken-)Geschichte, um zu zeigen, dass Alzheimer viele Gesichter hat, auch ganz gegen­sätzliche. Die Erkrankung kann eine Tragödie sein, aber auch ein Segen. Von ­Segen in Zusammenhang mit dieser allseits gefürchteten Krankheit zu reden, klingt wie Zynismus, doch genau das war es im hier beschriebenen Fall.

Aggressiv oder weich, ruhelos oder gelassen

Die ersten Veränderungen

Mit der Erkrankung an Alzheimer verändert sich der Mensch. Er wird aggressiv – oder weich. Irrt ruhelos umher – oder ist gelassen. Bei jedem zeigt sich die Krankheit wieder anders.

Schleichender Abbauprozess

Alzheimer setzt nicht plötzlich ein, es ist nicht wie bei einem Stromkreis, der mit ­einem Mal unterbrochen wird. Daher ist es auch für Betroffene wie Angehörige im Rückblick so schwierig, den Beginn der Erkrankung exakt anzugeben. Es findet ein schleichender Abbauprozess statt – in der Regel lassen erst markante Aussetzer Angehörige stutzig werden: Der Betroffene deponiert den Autoschlüssel im Gefrierfach. Oder kann nicht angeben, was er am Tag zuvor zu ­Mittag gegessen hat.

Blick nach vorne verkümmert

Bei vielen Alzheimerkranken lässt als Erstes das sogenannte prospektive Gedächtnis nach, also jenes Gedächtnis, das in die Zukunft gerichtet ist. Sie vergessen, was sie sich vorgenommen haben: stehen dann beispielsweise im Supermarkt und wissen nicht mehr, was sie einkaufen wollten. Planungen für die Zukunft fallen zunehmend schwer, der Blick nach vorne verkümmert.

Vorhaben vergessen

Kurzzeitgedächtnis lässt nach

Typischerweise lässt anfangs auch insbesondere das Kurzzeitgedächtnis nach. Was der Kranke zuletzt gelernt hat, verliert er als ­Erstes. "Situationen, die sich im Verlauf der letzten Stunden, Tage oder Wochen ereignet haben, werden entweder gar nicht oder in verworrener Reihenfolge bzw. nur bruchstückhaft erinnert. Dabei treten auch Kon­fabulationen auf, das heißt, die Patienten und Patientinnen überspielen ihre Gedächtnisstörung, indem sie sich Ereignisse zusammenreimen“, sagt Peter Dal-Bianco.

Langzeitgedächtnis funktioniert besser

Die jüngste Vergangenheit versinkt also im Dunkel. Dagegen kann der Betroffene sich noch relativ lang an weiter zurückliegende Zeiten erinnern, nicht zuletzt an seine Jugend­zeit – das Langzeitgedächtnis wird nicht so in Mitleidenschaft gezogen wie das Kurzzeitgedächtnis.

Unter der abnehmenden Gedächtnisleistung leidet auch die örtliche und zeitliche Orientierung. Der Weg nach Hause wird nicht mehr gefunden. Wann die Familienfeier im Gasthaus war, nicht mehr erinnert. War das vor einer Woche oder vor einem Jahr? Nicht zu sagen.

Erst leidet der Patient, dann die Angehörigen

Erst leidet Patient, dann die Angehörigen

Prof. Dr. Dal-Bianco unterteilt die Alzheimererkrankung in zwei Phasen: in der ersten ­leidet der Erkrankte, und in der zweiten ­leiden vor allem die pflegenden Angehörigen.

Die erste Phase: Der Mensch mit Demenz ist im Anfangsstadium seiner Erkrankung noch klar genug im Kopf, um zu registrieren, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Sein Erinnerungsvermögen lässt nach und ­manche ­Dinge möchten ihm einfach nicht mehr so gelingen wie früher. Das belastet ihn, das ist ihm unangenehm und peinlich. Statt das ­Problem zu thematisieren, wählen viele die entgegengesetzte Strategie und versuchen nach Kräften, es zu ver­heimlichen.

Im Urlaub entdeckt

"Der klassische Fall ist, dass die Krankheit im Urlaub entdeckt wird. Der Betroffene findet sich in der ungewohnten Umgebung nicht zurecht. Er sucht am dritten Tag nach der Toilette und findet sie nicht. Das ist der ­Moment, da den Angehörigen endgültig bewusst wird, dass da etwas nicht in Ordnung ist und abgeklärt gehört. In den meisten ­Fällen haben sie ja schon vorher etwas geahnt“, sagt Dal-Bianco.

Sprachverständnis und -vermögen schwinden

Angehöriger ändert sich ...

Spätestens wenn sich der Mensch mit Alzheimer im Fortgang der Erkrankung radikal ­ändert, beginnt nach Dal-Bianco die Leidens­zeit der Angehörigen. Sie erkennen den geliebten Menschen nicht wieder. Sie können mit ihm nicht mehr wie früher reden. Sie ­sehen, wie er sich nach und nach rückent­wickelt.

... und kann sich kaum mitteilen

Sprachverständnis und Sprachvermögen ­gehen dem Kranken abhanden. Er möchte sich mitteilen, doch das gelingt ihm nicht oder nur mit Mühe. Eine stete Quelle der Enttäuschung und Wut.

Auf fremde Hilfe angewiesen

Zur Aphasie, der Sprachstörung, kommt die Apraxie, die Störung in der Ausführung willkürlicher, zielgerichteter und geordneter ­Bewegungen bei intakter motorischer Funktion. „Damit wird das Verrichten alltäglicher Aufgaben wie das Binden von Schnürriemen, das Reinigen der Schuhe oder das Kochen erheblich beeinträchtigt. Diese apraktischen Störungen fallen den Angehörigen besonders auf, weil sie die selbst versorgenden Alltagsfähigkeiten der Patienten und Patientinnen reduzieren“, sagt Dr. Dal-Bianco.

Angst, Panik, Marotten

"Möchte nach Hause"

Der Betroffene kann seinen Alltag nur noch mit fremder Hilfe bewältigen. Er beginnt sich in der Welt fremd zu fühlen. Daher sein noto­risches Verlangen, "nach Hause gehen zu wollen“ – seine eigene Wohnung ist ihm zu fremdem Terrain geworden.

Nach klassischer Einteilung ist dies die Phase der mittelschweren Demenz: Der Betroffene ist im Alltag auf fremde Hilfe angewiesen. In der leichten Demenz kommt er noch alleine zurecht. Der schwer Demente braucht schließlich eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung. Nicht das Leiden selbst, sondern der Grad der Hilfsbedürftigkeit ist in diesem Klassifikations­system der Krankheitsmarker.

Uhrentest: Bei Demenz haben Menschen Schwierigkeiten, eine vorgegebene Uhrzeit korrekt aufzuzeichnen (Bild: Müller/VKI)

Beim Uhrentest haben Menschen mit Demenz Probleme, eine vorgegebene Uhrzeit korrekt aufzuzeichnen (Bild: Müller/VKI).

Angst, Panik, Marotten

Im späteren Krankheitsverlauf, der schweren Demenz, kommt es häufig zu Verhaltensauffälligkeiten. Der Betroffene kann von Angst und Panik überwältigt werden. Er kann ­Marotten entwickeln. Er kann gegen nächste Angehörige ausfällig werden. Verständlich, dass die mit Schreck und Unverständnis reagieren, mit Trauer und Wut, mit Verzweiflung und Hilflosigkeit.

Öffentlich pinkeln

Krankheitseinsicht kommt abhanden

Peinlich und unangenehm wird es für Angehörige, wenn der Betroffene sich anschickt, alle Scheu abzulegen. Er beginnt dann in der Öffentlichkeit zu pinkeln oder sexuell anzüglich zu werden. Dies ist jenes Stadium, da er vergisst, dass er vergesslich ist, da ihm jegliche Krankheitseinsicht abhanden gekommen ist. Jetzt zählt kein Verhaltenskodex mehr, jetzt zählen nur noch seine unmittelbaren Bedürfnisse.

Hochgefühl der Freiheit

Wenn man so möchte, erlebt der Betroffene ein Hochgefühl der Freiheit. Am Ende verliert der Kranke die Fähig­keit, Blase und Darm zu kontrollieren. Er wird bettlägerig. Der Kranke stirbt an Entkräftung und Auszehrung, öfters erliegt er schon vorher einer Lungenentzündung.

Über wie viele Jahre erstreckt sich eine Alzheimererkrankung? Das ist von Fall zu Fall verschieden. Normalerweise über acht bis zehn Jahre, in Einzelfällen aber auch über zwanzig. Wobei die Mediziner heute davon ausgehen, dass der Abbauprozess schon fünfundzwanzig bis dreißig Jahre bevor die ersten Symptome manifest werden einsetzt.

Computer stürzt ab, Mensch kompensiert

Der Mensch unterscheidet sich eben von ­einem Computer. Dieser stürzt sofort ab. Dagegen kann das menschliche Hirn auch bei Ausfall einzelner Teilbereiche seine Arbeit offensichtlich noch längere Zeit verrichten.

Buchtipp: "Alzheimer"

Jede Zeit hat ihre Krankheit. Heute ist das sicherlich Alzheimer - das schleichende Vergessen. Vor keiner Erkrankung haben die Menschen mehr Angst. Wir klären über diese und andere Formen von Demenz auf. Wir liefern Hintergründe und Tipps, lassen Experten und Betroffene zu Wort kommen und erinnern daran, dass auch ein Mensch mit Alzheimer durchaus glücklich sein kann.

www.konsument.at/alzheimer

Aus dem Inhalt

  • Verlauf einer Alzheimererkrankung 
  • Therapiemöglichkeiten 
  • Betreuung und Pflege 
  • Rechte der Betroffenen 
  • Hilfe und finanzielle Unterstützung

Zweite, überarbeitete Auflage 2017;  240 Seiten, 19,60 € + Versand

 KONSUMENT-Buch: Alzheimer 

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