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Medikamente: Teil 1 - Sicherheitsnetz mit Lücken

Neue Arzneimittel werden umfassend geprüft. Trotzdem gibt es Lücken im System.
In unserer neuen Serie „Medikamente“ nehmen wir den österreichischen Pillenmarkt genau unter die Lupe.
  • Im ersten Teil finden Sie alles über die Zulassungsvorschriften für neue Arzneimittel ("Medikamente: Teil 1").
  • Der zweite Teil beschäftigt sich mit Produktgestaltung und Preise ("Medikamente: Teil 2").
  • Mit einem kritischen Beitrag über die Verschreibungspflicht und Pillen per Post ("Medikamente: Teil3") endet unsere Serie.

Arzneimittel sind eine Wissenschaft für sich. Vom Gesetz definiert und reglementiert nehmen sie ihren Weg von der chemischen Substanz zum Medikament, das Ärzte verschreiben, Apotheker verkaufen und Patienten schließlich einnehmen. Der Weg eines Arzneimittels beginnt im Labor, wo die Chemikalie in so genannten präklinischen Untersuchungen zeigen muss, welche Möglichkeiten sie hinsichtlich Sicherheit, Wirksamkeit und Qualität bietet und wo ihre Grenzen liegen. In dieser Phase gibt es auch Tierversuche. Dann folgen die klinischen Prüfungen, in denen der Wirkstoff bei Menschen eingesetzt wird. Wie sie ablaufen, regelt ein Gesetzeswerk von Bestimmungen, Auflagen und Richtlinien.

Umfangreiche Prüfungen

In Phase I der klinischen Prüfung wird der Wirkstoff bei etwa 10 bis 50 gesunden Personen angewandt, um seine Verträglichkeit zu testen. An Phase-II-Prüfungen nehmen etwa 100 bis 200 Menschen teil, welche an jener Krankheit leiden, für die das Medikament gedacht ist. Bei diesen Tests erweist sich, ob die der Substanz zugeschriebene Wirksamkeit in der Praxis tatsächlich eintritt. In Phase III werden dann viele, im Idealfall tausende von Patienten behandelt. Jetzt muss sich zeigen, ob sich die bisher gefundenen Ergebnisse bei einer großen Zahl von Personen bestätigen. Auch die häufigsten unerwünschten Wirkungen müssten in dieser Zeit auffallen.

Wurden all diese Prüfungen erfolgreich abgeschlossen, reicht die Herstellerfirma die Untersuchungsergebnisse zusammen mit anderen erforderlichen Unterlagen bei der nationalen Behörde ein, die über die Zulassung von Arzneimitteln entscheidet („dezentrales Zulassungsverfahren“). Hier zu Lande ist es das Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen. Beantragt der Hersteller später die Zulassung in anderen EU-Mitgliedstaaten, erkennen diese die Erstzulassung üblicherweise an. Dieses „Anerkennungsverfahren“ sichert der Industrie bei geringen Zulassungskosten einen relativ raschen Zugang zum gesamteuropäischen Markt.

Zentralisierte Zulassung

Seit 1995 können Arzneimittel bei der Europäischen Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln (EMEA) mit Sitz in London für die gesamte EU zentralisiert zugelassen werden. (Auch Norwegen und Island haben sich diesem System angeschlossen. Für biotechnologisch hergestellte Produkte ist dieses Verfahren sogar vorgeschrieben. Ein zentralisiert zugelassenes Arzneimittel ist fast immer sofort im gesamten EU-Raum verfügbar.

So mancher mag sich schon einmal gefragt haben, ob er nicht unfreiwillig zum Versuchsobjekt wird, wenn der Doktor ein Pillenpackerl mit den Worten „Probiern S’ das mal“ aus seinem Schrank zieht. Dabei handelt es sich in aller Regel um ein unverkäufliches Ärztemuster. Das sind immer bereits zugelassene Medikamente. Denn die Gesetzeslage ist klar: Derjenige, an dem eine neue Arznei erprobt wird, muss umfassend informiert werden und schriftlich zustimmen. Dass Skepsis, ob das auch geschieht, dennoch angebracht ist, zeigt die Untersuchung einer Arbeitsgruppe der Universität Birmingham. Sie stellte fest, dass drei Viertel der Ärzte davon ausgehen, dass ihre Patienten ohnehin nicht verstehen, was sie da unterschreiben. An anderer Stelle fand man heraus, dass jeder fünfte Arzt sogar ganz darauf verzichtet, das Einverständnis einzuholen.1) Und immer wieder beschweren sich Ärzte über, wie sie finden, unlautere Methoden der Pharmaindustrie, die die Mediziner mit großzügigen Sach- oder Geldgeschenken bewegen will, den Patienten ihre Produkte zu verordnen und der Firma über die Ergebnisse zu berichten.

Sonderfall Frauen

Es gibt noch eine schwer verständliche Besonderheit: Frauen erhalten das neue Mittel meist erst, nachdem es für die Allgemeinheit zugelassen ist. Wenn die Firmen nicht – wie seit ein paar Jahren in den USA – vom Gesetzgeber gezwungen werden, auch Frauen in die Prüfung einzubeziehen, testen sie Arzneimittel im Allgemeinen nur an Männern. Frauen verteuern die Prüfung: Für sie sind monatliche Schwangerschaftstests gesetzlich vorgeschrieben. Wird eine Frau schwanger und wünscht einen Abbruch, muss das Unternehmen ebenso zahlen wie dann, wenn sie ein geschädigtes Kind bekommt. Dieses Risiko lassen sich die Versicherungen teuer bezahlen.

Trotzdem nehmen nach der Prüfphase natürlich beide, Frauen wie Männer, das Mittel ein. Also fällt auch erst in der Zeit nach der Zulassung auf, wenn sich ein Arzneimittel auf Frauen anders auswirkt als auf Männer und ob es Auswirkungen auf das Ungeborene hat.

Nebenwirkungen: spät erkannt

Neue Arzneimittel erhalten ihre Zulassung in der Regel, nachdem sie an 2000 bis 4000 Patienten erfolgreich erprobt worden sind. Diese Zahl reicht aber bei weitem nicht aus, um seltene Nebenwirkungen zu erkennen. Sie werden erst in den folgenden Jahren entdeckt, in denen das Mittel beim breiten Publikum unter Alltagsbedingungen angewandt wird. Für diese „Anwendungsbeobachtung“ sind Ärzte und Apotheker gesetzlich verpflichtet, bisher unbekannte Effekte zu melden, von denen sie annehmen, dass das Medikament sie verursacht hat. Die Meldefreudigkeit ist zwar beklagenswert gering, doch letztlich kommen so weitere Informationen zusammen, die das Profil des Wirkstoffs vor allem hinsichtlich seiner Sicherheit bei Langzeitanwendung klarer beleuchten. Eine besonders schwere unerwünschte Wirkung des Schmerzmittels Metamizol zum Beispiel, eine lebensgefährliche Störung der Blutbildung, tritt mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million auf. Um sicher zu wissen, dass Störung und Medikament zusammenhängen, müssen statistische Daten über die Behandlung von drei Millionen Menschen vorliegen.2)

Pharmakritiker nennen dieses Vorgehen „unkontrollierter Großversuch von Arzneimitteln an der nicht informierten Bevölkerung“, denn zu groß angelegten, wissenschaftlich fundierten Anwendungsbeobachtungen, deren Ergebnisse selbst bei negativem Ausgang für das Produkt veröffentlicht werden, sind die pharmazeutischen Unternehmer nicht verpflichtet.3) Darum fordern Kritiker schon seit langem, dass spezielle Prüfinstitute geschaffen werden, die diese Arbeit übernehmen. Bisher sind das jedoch nur Wünsche.

Wer noch nicht krank ist, wird es spätestens, wenn er den Beipackzettel seines Medikamentes liest. Dessen Text dient vielem – dass er aber, wie vom Gesetz vorgesehen, die Sicherheit der Anwendung von Arzneimitteln erhöht, ist Illusion. Eine deutsche Krankenkasse hat ihre Mitglieder befragt, wie gut sie die Beipackzettel ihrer Medikamente verstehen. 43 Prozent haben Probleme damit; fast ein Drittel greift zunächst einmal zum Lexikon. Fast ein weiteres Drittel will sich den Frust gar nicht erst antun und wirft das Papier in den Mistkübel. Das wird bei uns in Österreich wohl nicht anders sein.

Problemfall Beipackzettel

Das Gesetz schreibt vor, was das Papier enthalten muss, und die Hersteller tun gut daran, sich daran zu halten, wenn sie sich nicht auf juridische Abenteuer einlassen wollen. So kann es zum Beispiel erhebliche haftungsrechtliche Konsequenzen haben, wenn sie von einer möglichen unerwünschten Wirkung wissen, sie im Beipackzettel aber nicht aufführen. Ähnliches gilt für die Anwendungsgebiete. Nur für das, wofür das Mittel in den klinischen Prüfungen untersucht wurde, kann es zugelassen werden. Und nur für die Anwendung bei diesen Indikationen kann der Hersteller haftbar gemacht werden, wenn trotz bestimmungsgemäßen Gebrauchs etwas schief geht. Es heißt nicht, dass das Mittel bei anderen als den genannten Indikationen nicht wirkt.

Gebrauchsinformation beachten

An dem Beispiel eines Schmerzmittels mit dem Wirkstoff Ibuprofen sei das illustriert. Ein Arzt hat einer Frau ein Präparat mit 200 mg Ibuprofen gegen ihre Regelschmerzen verordnet. Nun kommt sie mit Gelenkschmerzen. Auch dagegen wird Ibuprofen eingesetzt, allerdings in höherer Dosierung. Wenn er ihr nun empfiehlt, von dem Mittel gegen Regelschmerzen eine größere Menge einzunehmen und damit ihre Gelenkschmerzen zu lindern, trägt er das volle Risiko für diesen Rat, wenn die Gebrauchsinformation des Herstellers die Indikation „entzündliches Rheuma, Gelenkschmerzen“ nicht aufführt. Die Schmerzen lindert es aber auch ohne die entsprechende Angabe.

Bleibt noch eine interessante Frage offen: Nehmen wir eigentlich all das ein, was wir von unseren Ärzten verschrieben bekommen? Auch das haben unsere gründlichen deutschen Nachbarn erhoben. Unglaubliche 4500 Tonnen Medikamente werfen die Bundes- deutschen jährlich weg.4) Experten befürchten, dass die Situation in Österreich nicht viel anders ist.

1) Wunderdroge sucht passende Krankheit; Süddeutsche Zeitung 271, 24. 11. 1998
2) Deutsche Apotheker Zeitung 137, 50, 11. 12. 1997, S. 30
3) BÄK-Intern; 29. 4. 1998, S. 14
4) Deutsche Apotheker Zeitung 139, 4, 28. 1. 1999, S. 8

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